Skalenvarianz*

Nicanor Parra, Jahrgang 1914, ist ein interessanter chilenischer Dichter und Anti-Poet.
Sein “What is Poetry” haben wir schon in der Intensivlyrik als Wer der hohen (lyrischen) Kunst behandelt. Hier präsentieren wir ein anderes Meisterwerk von Nicanor Parra, das sich kaum anders als visuell präsentieren lässt.

 Los cuatro sonetos del apocalipsis

Parra / Brovot / Stenkamp ...

Die Übertragung der vier Sonette der Apokalypse des chilenischen Dichters Nicanor Parra ins Deutsche durch Thomas Brovot erfolgt, den Titel ausgenommen, Zeichen für Zeichen.

Die erste Strophe des ersten Sonetts geben wir hier wider und nehmen sie, pars pro toto, als Grundlage weiterer Bearbeitungen. Denn wir wollen hier das Ikonische des Gedichts herausarbeiten.
Die zeichenweise Übertragung ist spannend, hieße es im Vergleich doch, Apokalypse gestaltet sich an einem Ort wie am anderen, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, gleich.

Konsequenterweise wären The Four Sonnets of the Apocalypse oder Les quatre sonnets de l’apocalypse ebenso berechtigte Titel weiterer, ansonsten identischer Übertragungen; ebenso passend oder verfehlt, worüber weiter nachzudenken ist .

Welche Argumente lassen sich finden? Der Tod als großer Gleichmacher am Ende jeglichen Lebens, dürfte sich, soweit er sprachunabhängig ist, auch unabhängig von Sprache ausdrücken lassen!? Nun sind Kreuze aber durchaus christliche Zeichen des Gleichmachers jeden Lebens, doch sie sind keine Gleichmacher des Todes! Denn dieser ist nach christlichem Glauben ja erst der Anfang des ewigen Lebens, vielleicht auch im Sinne eines ewigen ‚Gelebt-Habens‘. Das führte jedoch zu kulturellen oder religiösen Überlegungen, die wir hier nicht in gebotener Tiefe leisten können

Wenden wir uns deshalb erst einmal den Gedichten, hier ersatzweise der präsentierten ersten Strophe als Textvorlage zu. Was ist mit dem einzelnen, bei Lebewesen könnte es auch wohl heißen: individuellen Kreuz (siehe 2. Zeile)? das steht im Spanischen beispielsweise für „y“, was zumeist mit „und“ ins Deutsche, mit “and” ins Englische und mit “et” ins Französische übersetzt werden müsste oder in einer naheliegenden Zeichensetzung des Gedichts: „†††“ statt „†“. (Vielleicht liegt diese Zeichen-für-Zeichensetzung doch nicht so nahe.)

Dieses Beispiel verdeutlicht ein grundsätzliches Dilemma phonetischer Schriften, ihrer Referenz auf Laute, nicht (unbedingt) Bedeutungen. Da hilft es auch nicht, wenn manche Ursprünge des Sprechens, der sprechenden Dichtung in der Onomatopoesie liegen, wie bei einem lautmalenden, „mama“ als nachgeahmtem Schmatzlaut an der Mutterbrust.**

Nun verwendet Nicanor Parra bei seinen Apokalypse-Sonetten phonetische Schriftzeichen nur für den vorangestellten zusammenfassenden Titel der vier Stücke. Diesen steht jeweils ein arabisches Zahlzeichen vor (1; 2; 3; 4;). Die Stücke selbst sind in Zeilen von Kreuzen, Kreuzgruppen gesetzt. Das ist gleichzeitig von größerer und kleiner Komplexität als phonetisch geschaffene Werke.***
Um das zu verdeutlichen, übertragen wir das christliche Gedicht (ohne Überschrift) ein, zwei weitere Male ins ikonische Hebräisch und Arabisch. Plötzlich ändert sich die Leserichtung, fast möchten wir sagen, die Lesart.

Tode mögen individuell das Ende des irdischen Lebens sein, interkulturelle Zusammenhänge ändern sie sich jedoch deutlich. Es reicht nicht, an dieser Stelle allein von (r)einer Förmlichkeit zu sprechen. Der zahlenmäßige Bezug von vier apokalyptischen Sonetten zu vier apokalyptischen Reitern bezieht Parras Gedichte auf die biblische Offenbarung des Johannes. Tiefere Kenntnisse zu deren Bedeutung für das Judentum, den Islam oder andere Religionen fehlen hier, werden aber gerne zur Kenntnis genommen und hier eingearbeitet.

Eine weitere Bearbeitung brachte uns zu „Hammer und Sichel“, einem durch die jüngere Geschichte sozialistisch belegten Symbol. Mittels Blocksatz wird hier die erste Strophe des ersten Sonetts in Kolonne präsentiert.
Aus unserer Perspektive öffnet gerade diese Übertragung unseren Blick auf das Leben vor dem Tod. Das Arbeiter- und Bauern-Dasein im Spannungsfeld er Selbstbefreiung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert und der Aneignung des geschaffenen Mehrwerts. Dass sich hierfür regelmäßig stramm geführte Regime etabliert haben, liegt wohl am innenwohnenden Verständnis von Sein und Form, verbunden mit dem speziell sozialistischen Willen zur Kausalität.

Die nächste Übertragung in internationale Symbolik ist das Radioaktiv. Hier haben wir eine technische, binär-einstellige Darstellung benutzt; das heißt, Leerstellen beanspruchen den gleichen Raum wie Füllstellen. Das erzeugt im Schriftbild einerseits ein deutlich verändertes Muster, andererseits steht das Radioaktiv-Symbol für selbstverursachte innerweltliche Katastrophen-Chancen.

Ein Kultursprung in eine völlig andere Art von Dreifaltigkeit, das Eine, das Andere wie das Ganze, die wir chinesisch nennen, verändert die Bedeutung noch mal radikal. Das Ganze ordnet sich deshalb um die Mitte, die Zeilen werden zentriert gesetzt und wir erhalten einen neuen Eindruck, der sich vielleicht als fehlende Finalität bemerkbar macht. Es geht in Kreisprozessen nicht um den Anfang oder das Ende, sondern um die Mitte.

Was mit der Bedeutung passiert oder passieren kann, wenn wir die Übertragung noch weiter treiben, zeigt unser letztes Übertragungs-Schema: Fast lapidar wirkt unsere Übertragung ins Mathematische, welches abstrahierend kaum noch zu übertreffen sein dürfte.

Es steht allen Leserinnen und Lesern frei, sich weitere Varianten auszudenken.

Der an den Schluss gesetzte Punkt ist für uns kein Schlusspunkt, sondern Auftakt; Auftakt zu weiteren Überlegungen zur Lyrik, zur Literatur, zur Sprache, ...

 

* Skalenvarianz lehnt sich als Begriff an die Skaleninvarianz an, die manche Gebilde der wesentlich von Benoît Mandelbrot entwickelten fraktalen Geometrie hinsichtlich ihrer Dimensionalität eignet.
** So beispielsweise: Rühmkorf, Peter, 1981: agar agar - zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven, Reinbek bei Hamburg
*** Wer das Thema vertiefen will, mag sich beispielsweise mit folgendem Büchlein beschäftigen: Mandel, Gabriele. 2003, Wiesbaden, Gezeichnete Schöpfung. Eine Einführung in das hebräische Alphabet und die Mystik der Buchstaben

 

Parra(dies)

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