Vieles Lernen wir über Lyrik

nur das wirklich Wesentliche oft nicht. Denn das Gedicht kann machen was es will, oder seine Autorin, sein Autor. Aber es kann seiner Form nicht entkommen, wenigstens nicht vollständig und das gibt uns einen Interpretationszipfel in die Hand, den wir hier auch ergreifen.
(Tipp für SchülerInnen: nicht abschreiben, Suchmaschinen-Test!)

Achilles und der Zorn der Götter

Interpretation eines untermalten Gedichtes

RENÉ MAGRITTE malte 1960, drei Jahre, nachdem der erste Sputnik die Erde umkreiste, das Bild mit dem Titel: La colére des dieux/Der Zorn der Götter (Öl auf Leinwand, 61 x 50 cm). Darauf dargestellt sind: ein Automobil mit zwei Insassen auf einer Straße, eine mit Chauffeursmütze am Steuer, eine mit Melone im Fond. Auf dem Dach spornt ein Reiter sein galoppierendes Pferd mit einem Stock zum Rennen an. Der Hintergrund zeigt eine Gebirgslinie über der der Himmel dämmert.

NORBERT STENKAMP verzichtete 2009, vierzig Jahre, nachdem er die erste Mondlandung im nächtlichen Fernsehen mit verfolgt hatte, auf ein weißes Blatt Papier als Unterlage für sein Gedicht und reißt stattdessen eine ca. 20 x 26 cm große Reproduktion dieses Bildes aus einem Buch. Darauf schreibt er sein Gedicht Achilles.

Dieses Gedicht ist deshalb in seiner ganzen Anlage anders aufgebaut als herkömmliche Gedichte. Es arbeitet darüber hinaus mit eigenen grafischen Mitteln, die das untermalende Bild ihrerseits einbeziehend verändern. Beispielsweise gibt es vier geschlängelte Linien, von denen zwei noch durch die beiden Worte „Offener Himmel“ unterbrochen sind. Darüber schweben, vor dem Hintergrund des Himmels, jeweils Pfeilspitzen, die auch stilisierte Vögel darstellen könnten; allerdings mit nach unten gerichteten Flügelspitzen.

Kommen wir damit nun auf das Gedicht zu sprechen. Achilles, so heißt es unerwähnter Weise, ist auch das erste Wort der ersten Strophe. Doch besteht diese zusätzlich noch aus zwei Pfeilen; einer weist auf den Reiter, der andere auf das Pferd. Insofern wird Achilles hier gezweitelt. Diese unübliche Wortbildung, angelehnt an die üblichen Redewendungen des Drittelns, Viertelns … usw., mag etwas zwischen gedoppelt und halbiert bedeuten. Gedoppelt halbiert wäre eins, hier aber eben Zwei in Eins; was jedoch eine arabische Ziffer 2 nahelegen würde. Der Auftakt des Gedichts wirft also eine Frage, vielleicht sogar ein Thema auf. Möglicherweise sind die folgenden Strophen weiterführend, zumindest erhellend.

Die zweite Strophe bilden die schon erwähnten geschlängelten Pfeile mit der Phrase „Offener Himmel“. Dass der Dichter ausdrücklich darauf hinweist, mag einerseits an dem untermalenden Bild liegen, wo der Himmel aufgrund der dargestellten Objekte nur hintergründig wirkt. Andererseits mag es eine Aufforderung sein, die Phrase gedanklich in „Offener Ausgang“ zu verwandeln. Bemerkenswert ist auch die Richtung der Pfeile, die einerseits wie selbstverständlich nach oben weisen, dies andererseits aber vor einem entlang der Schattierungen in die Breite gemalten Himmelshintergrund tun. Die hier benutzten geschlängelten, ja sogar zweimal vom Schriftzug unterbrochenen Pfeil-Linien drücken trotz allem eine gewisse Vagheit aus.

Mit der dritten Strophe, die neben der zweiten angeordnet ist, verdeutlicht  der Dichter, dass er auf dem untermalenden Bild eindeutig in der Fläche, in einem aufgespannten Feld arbeitet. Die Ordnung dieses Gedichtes ist also nicht die herkömmliche von oben nach unten. Insofern ist die Wahl der zweiten und dritten Strophe einerseits willkürlich, andererseits entspricht sie unserer Lesegewohnheit von links nach rechts. Des Weiteren unterstreicht dieses Nebeneinander der beiden Strophen die Zweitelung des Achilles durch, mit und in der ersten. Gleichzeitig fällt auf, dass der Dichter Wert auf eine genaue, will sagen, verständige Lesart legt. Der Text der Strophe lautet nämlich: „I. Zeitpunkt der Differenz“. Einerseits weist er damit auf die Differenz zwischen Achilles hin, einmal als Ross, andermal als Reiter. Dann aber, und das dürfte eine Feinheit sein, deren Bedeutung nicht sofort auffällt, dass er eine römische Ziffer verwendet. Römische Ziffern repräsentieren Anzahlen, unser heutiges arabisches Ziffernsystem repräsentiert dagegen Maßzahlen. Dabei gilt außerdem, Zeit ist immer ein Maß. Ein Zeitpunkt ist insofern und als Anzahl etwas, das, entgegen seiner Bezeichnung, selber keine Zeit hat, darstellt oder bedingt. Damit übereinstimmend wird nirgendwo im Gedicht ein II. Zeitpunkt markiert. Das bezieht den offenen Himmel als offenen Ausgang mit ein; könnte aber auch bedeuten, dass der Text als: „Einziger Zeitpunkt der Differenz“ interpretiert werden soll. Fast unterschwellig greift dies das untermalende Gemälde MAGRITTEs auf. Denn Achilles kann sich mit dem Stock in seiner Weise als Ross und Reiter nur selber treffen.

Die vierte Strophe bezeichnet das abgebildete Fahrzeug als „Mutant Hero Turtle“. Die Anordnung des Textes direkt auf dem Fahrzeug ist deutlich eine andere als bei Achilles und will bemerkt werden. Achilles, (Ross und Reiter), wird mittels zweier geradliniger Pfeile bezeichnet. Das Automobil wird benannt. Das illustriert einen Unterschied wie beispielsweise: „Ich heiße Achilles“ und „Ich bin Achilles“ oder vielmehr „Ich heiße Schildkröte“ und „Ich bin Schildkröte“. Gleichzeitig werden das Automobil und seine Insassen insgesamt so benannt; eine verbindende Unterscheidung wie bei Achilles unterlässt der Dichter. Dabei wirken beide Insassen relativ regungslos, sowohl was physische als auch emotionale Regung angeht. Insofern bilden sie zusammen mit dem Auto, welches aufgrund seiner Deutlichkeit ebenfalls unbewegt wirkt, eine Einheit bei gleichzeitiger physischer Separation; die unbewegten Beweger der antiken Philosophie.

Das bringt eine weitere Nuance in das Gedicht, das mit den dreibeiden Akteuren auf das schon antike Paradoxon des Wettrennens zwischen Achilles und der Schildkröte wie auf die zeitgenössische Zeichentrick-Serie – und Zeichentrick soll wohl als Zeichen-Trick präsentiert werden – Teenage Mutant Ninja Turtles anspielt.

Dieser Verweis auf das Wettrennen spielt selbstverständlich mit beiden Varianten der Geschichte. Achilles und die Schildkröte machen ein Wettrennen. Achilles meint, dabei keinen Ruhm gewinnen zu können, es sei denn die Schildkröte bekäme einen Vorsprung. Das war, nach der einen Variante zwar schnell gesagt, doch schlecht durchdacht. Denn aufgrund des Vorsprungs käme die Schildkröte immer als erste ans Ziel. Denn Achilles müsste ja immer erst den Vorsprung einholen. Hätte er das getan, wäre die Schildkröte jedoch schon weiter und immer so fort. Deshalb also könne Achilles die Schildkröte niemals mehr erreichen. Die andere Variante erzählt die Geschichte anders. Achilles macht einen Meter lange Schritte, die Schildkröte solche von zehn Zentimetern. Achilles gibt der Schildkröte zehn Meter Vorsprung. Dann rennen beide los. Nach zehn Schritten hat Achilles die zehn Meter Vorsprung geschafft, die Schildkröte ist einen Meter weiter. Diesen Vorsprung holt Achilles nach einem weiteren Schritt ein, während die Schildkröte zehn Zentimeter weiter ist. Mit dem nächsten Schritt erreicht Achilles seine Zwölf-Meter-Marke und überholt damit die Schildkröte, die erst bei elf Meter zwanzig ist.

Aus praktischer Erfahrung wissen wir, dass wir sich bewegende Lebewesen mit der entsprechenden Geschwindigkeit ein- und überholen können. Die in der ersten Variante unterstellte Kausalität ist also unzutreffend und bedeutet nebenbei, dass wir Augenblicke nicht festhalten können! Wenn also Schranken festgestellt, vielmehr aus theoretischen Überlegungen heraus abgeleitet werden, wo keine sind, dann macht die fünfte Strophe deutlich, dass solche Schranken dort stehen mögen, wo wir sie nicht als solche wahrnehmen, nämlich Entlang. Entlang der Straße führt nämlich eine Mauer. Doch wird diese nicht direkt, weder bezeichnet noch benannt. Stattdessen lautet die fünfte Strophe: „Bemauerter Boden“ und ein Pfeil weist genau auf die Kante des Bodens, an der die Mauer aufragt. Dieses begrenzte Entlang der Straße ist einerseits tiefer im Bild verankert (weiter im Hintergrund) als Achilles und Mutant Hero Turtle. Andererseits wird dadurch nochmal die Orthogonalität der Richtung, in die der „Offene Himmel“ weist, betont.

Hier kommt MAGRITTEs Gemälde ins Spiel, das gut 50 Jahre nach Einsteins Relativitätstheorie gemalt wurde. Einstein leitete, gleichfalls aus theoretischen Überlegungen, die berühmteste Formel der Welt ab,
E = mc². Das besagt, dass sich Licht im Vakuum in einer absoluten Geschwindigkeit bewegt. Wenn sich nichts schneller als solches Licht bewegen kann, dann lässt sich dieses nach dem „I. Zeitpunkt einer Differenz“ nie mehr einholen; tja, das gilt zumindest so weit, dass und weil bis jetzt keinem der Beweis des Gegenteils gelungen ist. Deshalb wird in diesem Zusammenhang erwähnenswert, dass sowohl Pferd und Reiter als auch das Auto entgegen unserer gewöhnlichen Leserichtung fahren. So weist die Richtung auf Ursprung. Das ist bedeutsam für den ersten Zeitpunkt der Differenz, denn dieser lässt jetzt in Leserichtung Achilles und Mutant Hero Turtle hinter sich!

In diesem Assoziations-Feld bezeichnet der Dichter sein Werk, einigermaßen keck, kurz als „Ein untermaltes Gedicht“. Das klingt nach der erklärten Absicht, Lesarten durcheinander bringen zu wollen. Dabei soll sowohl Konträres als auch Kontradiktorisches als Komplementäres präsentiert werden. Daraus resultieren wohl die unkonventionellen Mittel, mit denen das Gedicht gestaltet wurde. Das fast wie beiläufig von Hand hingeworfen wirkende Schriftbild verlangt dennoch an vielen Stellen eine ziemlich strenge Lesart. Damit kommen wir auf die anfänglich aufgeworfene Frage nach den Göttern, beziehungsweise nach ihrem Zorn zurück.

Was in dem Bild drückt den Zorn der Götter aus? Ross und Reiter oder die unbewegten Beweger? Oder bezeichnen die Begriffe sowohl das eine als auch das andere? Rufen vielleicht die Widersprüche und/oder Differenzen zwischen Organischem und Mechanischem, beide in ihrer Weise Götter, Maßstäbe des In-der-Welt-seins, den Zorn hervor? Macht also der Dichter durch, mit und in seinem Gedicht aus dem vordergründig relativ klaren Gemälde RENÉ MAGRITTEs ein Vexierbild in dem die Lesarten changieren?

Zu denken gibt allerdings, dass STENKAMP mal bei einer Gelegenheit formulierte, er könne sich auch vorstellen, dass das Gedicht nicht in das Bild hinein, sondern aus ihm heraus gemalt wurde. Auf die Frage, was er damit meine, antwortete er, das Gedicht skizziere die Komplexität, mit der wir MAGRITTEs Zorn der Götter und Bilder überhaupt, aber auch Gedichte lesen sollten; denn die bedeutsamen werden nur so geschrieben.

So liest doch kein Mensch! So kann man auch nicht dichten!

Vielleicht, vielleicht sind’s bloß Geschichten. Denn Landschaften, die klassische Leser durchstreifen, sind Maßstäbe nicht, die Internet-Surfer begreifen; allenfalls an den gemeinsamen Oasen ihrer beider Wüsten.

Doch um die Zweitelungen des Gedichtes auch in dieser Interpretation aufzugreifen, folgt noch ein weiteres interpretierendes Gedicht; viel Spaß beim Weiterinterpretieren.

Verflixt

Hier lässt sich
so einfach nicht
Skaleninvarianz einfordern
oder auch nur her-
stellen.
Das Große ist nicht
wie das Kleine, das Viel
kein bloß mehrfaches Einzelnes,
die Betonung für-sich,
für-sich-allein stehender Gedichte
in einer Bibliothek,
ein Ideologem.
„So liebt doch kein Mensch ...
Und fortzusetzen wäre:
„So kann man auch nicht lieben!“
Vielleicht, vielleicht dient’s nur den Dieben. ...
Stenkamp #
 
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Exemplarisch interpretiert

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